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Drei Brüder

Ottilie Amthauer

Ein Wort voran ...

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1. Buch

Als Karl Wenden in russische Kriegsgefangenschaft geriet, war nicht abzusehen, wann und wie dieser Krieg einmal enden würde. Es war noch zu Anfang des Krieges und jedes Land, das sich im Kriegszustand befand, glaubte an seinen Sieg, an den gerechten Sieg. Aber was ist in einem Krieg gerecht? Er schafft eigene Gesetze und setzt eigene Maßstäbe. Die Menschen, die hinein geschleudert werden in das Inferno aus Blut und Tränen, glauben zuerst an die Gerechtigkeit ihres Kampfes, bis sie allmählich einsehen müssen, dass es diese nicht gibt bei keinem Volk. Aber wenn sie die Wahrheit erkennen, ist es schon zu spät, um aufzuhören, um zurückgehen zu können. Alles nimmt seinen Lauf, bis einer nicht mehr kann, bis ein Volk am Boden liegt und um ein Ende bittet - gleich wie. Ist das Gerechtigkeit?

Die Gefangenen, die mit Karl Wenden zusammengepfercht in sonst für den Viehtransport bestimmten Eisenbahnwaggons hockten, hatten jedes Gefühl für die Zeit verloren. Es erschien ihnen eine Ewigkeit her zu sein, dass man im Warschauer Bahnhof die Waggons bestiegen hatte. Einmal am Tag hielt der Zug irgendwo im freien Gelände und dann bekamen die Gefangenen eine Wassersuppe gereicht. Die Kübel wurden ausgeleert, und der Gestank, der in den Wagen hing, nahm ein wenig ab — aber nur ein wenig. In dieser Eintönigkeit des Nichtwissens, des anscheinend unendlichen Fahrens, kam dann eine Parole auf: Wir sind bald in Moskau und dort gibt es Gefangenenlager mit Betten, regelmäßigem Essen und Krankenbetreuung.

In jedem Waggon gab es schon Kranke und niemand kümmerte sich um sie. Die Toten wurden an den Haltestellen des Zuges hinaus getragen, niemand von den Zurückbleibenden wusste, was mit ihnen geschehen würde. Doch erbarmten sich die Einheimischen und begruben die Fremden auf ihren Friedhöfen. Wer noch Kraft genug hatte, dachte nur das Eine: Durchhalten, durchhalten. Niemand würde in der Heimat erfahren, wo die Toten geblieben waren — und das wünschte keiner der Gefangenen seinen Angehörigen. So versuchte jeder alles, um zu überleben.

Karl Wenden war gesund und hatte eine ungeheure Energie, und vor allem: er war Optimist. So tröstete er viele seiner Mitgefangenen, die verzweifeln wollten — und rettete damit vielen das Leben. Besonders einer, Heinrich Heiden, der gleich ihm Landwirt in Hessen war, litt so unter den Umständen, vor allem dem schlechten Essen, dass er unentwegt jammerte und oft weinte.

„Du willst doch wieder nach Haus kommen,“ fuhr Karl ihn an, „dann nimm Dich zusammen! Mit Jammern kann man hier nichts ändern. Aber mit Deiner Jammerei machst Du Dich krank, und uns anderen machst Du das Leben noch schwerer, als es ohnehin ist. Also hör auf!“

Das half ein bisschen, und Karl wandte immer wieder diese Methode an, wenn Heinrich in seine Depressionen verfiel. Als man in Moskau ankam, war Ostern, der höchste Feiertag der griechisch/russischen orthodoxen Kirche, und die Menschen fielen sich in die Arme mit dem Gruß: „Er ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden.“

Die Kirchen waren voll mit gläubigen Menschen. Die Gefangenen, die am Bahnhof ausgeladen wurden, bekamen wirklich eine warme, gute Suppe, und sie bekamen Wolldecken. Es gab in Russland viele Adlige und viele reichen Leute, die deutscher Abstammung waren, die sich in Gruppen zusammengetan hatten und deutsche Kriegsgefangene versorgten. So bemühten sie sich auch an diesem Feiertag um den ankommenden Gefangenentransport. Aber wenn die Gefangenen gedacht hatten, dass sie hier bleiben würden, so wurden sie enttäuscht. Man brachte sie nur zu einem anderen Bahnhof, in andere Züge. Und sie sahen — von hier aus ging es in den Osten, nach Sibirien. Nun würden statt 2000 km mehr als das Doppelte zwischen ihnen und der Heimat liegen.

Auch Karl Wenden bekam einen Schock, als er das Ziel der Reise erkannte. Für jeden, der sich damit befasst hatte, war Sibirien das Ende aller Hoffnungen, aller Zivilisation. Jeder, der dorthin verbannt wurde, war ein Todeskandidat. Jetzt waren alle verzweifelt und hoffnungslos. Als man durch das Ural-Gebirge fuhr, das Asien von Europa trennt, nahm man kaum etwas wahr von der Schönheit dieser Landschaft. Die Fahrt dauerte mehr als drei Wochen, dann stand der Zug in Taschkent still. Man war in Usbekistan. Usbekistan war noch nicht sehr lange unter russischer Oberhoheit. Auch vor Kriegsbeginn lebten kaum Russen dort. Und die waren fast nur Militärs. Sonst war auch Taschkent selbst fast nur von Usbeken bewohnt. Sie waren strenge Moslems und ihre Moscheen und Medresen zeugten von großer Religiosität und einem Schönheitssinn sondergleichen. Samarkand war einst die schönste Stadt der Welt. Aber von all dem sahen die Gefangenen nichts. Sie wurden sofort in ein Gefangenenlager gebracht, das mitten in der Wüste Kysylkum, nahe des Flusses Syr-Darja lag. Die Temperaturen lagen bei der Ankunft der Gefangenen bei 60°, und das Lager bot kaum einen Schutz vor der Hitze. Mangelnde Hygiene und die unvorstellbare Hitze trugen dazu bei, dass Epidemien ausbrachen, die unzählige Tote forderten. Dreißig Männer schaufelten täglich Gräber für die Toten. Viele Gefangene waren schon kurz nach der Ankunft im Lager an Typhus gestorben, weil sie vor Durst aus den Wassergräben getrunken hatten, die neben der Straße in Taschkent herliefen und völlig verseucht waren.

Bemerkenswert war, dass die Usbeken den Gefangenen halfen, wo sie es konnten. Selbst sehr arm, gaben sie doch von dem Wenigen, das sie besaßen und halfen damit vielen, zu überleben. Karl Wenden hatte sich mit dem Schicksal abgefunden und versuchte, das Beste daraus zu machen. Er wusste, wenn er sich gehen ließ, würde er nicht wieder nach Hause kommen. Und das wollte er, koste es, was es wolle. Er trank kein Wasser, das verseucht sein konnte, und teilte sich seine zugeteilte Portion Essen ein, schlang es nicht hastig herunter, wie es die Anderen taten.

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Aber dann erwischte ihn die Malaria. Er war sehr krank und wurde ins Lazarett verlegt. Hier freundete er sich mit einer Schwester an, die recht gut deutsch sprach und die ihm Extra-Essensportionen zukommen ließ, so dass er sich gut erholte. Inzwischen wurde das Lager zum Teil aufgelöst und Karl kam nun mit einem Transport nach Rostow am Don. Hier war alles schon ein wenig besser als in der Wüste. Die Gefangenen genossen sogar ein wenig Freiheit, konnten sich in der Stadt umsehen und etwas kaufen, wenn sie Geld hatten. Und dann bot sich sogar die Gelegenheit, in der Stadt zu wohnen, wenn man einen Arbeitsplatz hatte. Karl besorgte sich einen — er konnte bei einem Fuhrunternehmer als Kutscher arbeiten: eine ideale Stellung für einen Landwirt. Nun hatte er sich inzwischen auch mit einem Kameraden angefreundet, der gleiche Interessen hatte und der, gleich ihm, auch Fluchtpläne hegte. Sie wohnten und arbeiteten zusammen und nach Feierabend bummelten sie durch die Stadt. Eines Abends wollte Karl noch etwas kaufen und ging in ein Geschäft. Dort erlebte er, dass ein junges Mädchen von zwei übel aussehenden jungen Männern belästigt wurde. Er beförderte die Männer an die frische Luft und nahm sich dann des Mädchens an, das sich in korrekter deutscher Sprache bei ihm bedankte.

„Ich habe gleich gesehen, dass Sie Deutscher sind und bin so froh, einmal wieder meine Muttersprache sprechen zu können. Darf ich Sie einladen zu mir nach Haus? Ich wohne gleich um die Ecke.“

Karl glaubte, Augen und Ohren nicht zu trauen, als er dieses reizende Geschöpf vor sich betrachtete. Alwine Leis, wie sie sich vorstellte, war wohl um die 20 Jahre alt, von zierlicher Gestalt, hatte blondes Haar, blaue Augen und strahlte eine Heiterkeit aus, wie sie Karl bei keinem Menschen sonst gesehen hatte. Er dachte, aber nur kurz, an seine Frau daheim, die fast immer traurig war, besonders, als sie ihn in den Krieg ziehen lassen musste. Aber Friederike war Tausende von Kilometern von ihm entfernt, unerreichbar für ihn und hier stand eine andere Frau vor ihm, mit der er in seiner Sprache sprechen konnte. Schon das war etwas so Schönes, dass Karl sofort zusagte und mit Alwine Leis zu ihrer Wohnung ging, die tatsächlich nicht weit entfernt war. Nach zwei Jahren Gefangenenlager erschien es Karl, als wäre er im Paradies. Das Haus, in dem Alwine mit ihrer Mutter wohnte, lag in einem kleinen, gepflegten Garten und vor dem Fenster hingen Blumenkästen, in denen es blühte und grünte.

„Wie wird sich Mutter freuen, einen Landsmann begrüßen zu können. Seit Jahren wohnen wir hier in einem Haus mit einem Russland-Deutschen zusammen. Bisher hat uns niemand wegen unserer Herkunft belästigt, aber das wird wohl nicht so bleiben, wenn der Krieg weitergeht.“

Sie traten ins Haus und Alwine rief: „Mutter, ich komme mit einem Gast.“

An der Treppe, die frisch gebohnert glänzte, stand Frau Leis — eine stattliche Frau um die 60 Jahre, sie musste vor Jahren ausgesehen haben wie ihre Tochter. Sie strahlte genauso wie diese und empfing Karl Wenden mit einer Herzlichkeit, als kenne sie ihn schon seit Jahren. Und dann die Wohnung — Karl glaubte sich zu Hause, in Deutschland. Da blitzte alles vor Sauberkeit. In der Küche brodelte es in Töpfen auf einem großen, blanken Herd. Im Wohnzimmer war ein Tisch einladend gedeckt. Ein Blumenstrauß stand in der Mitte. Vor den blitzblanken Fensterscheiben ebenfalls Blumen und weiße Gardinen — alles sah so gemütlich aus, dass Karl sich vom ersten Augenblick an heimisch fühlte. Er dachte auf einmal nicht mehr an zu Hause. Vergessen waren seine Fluchtpläne. Frau Leis legte ein drittes Gedeck auf und holte eine Flasche Wein aus dem Keller. Karl aß seit zwei Jahren mit einem Genuss, wie er ihn vorher nie gekannt hatte, selbst vor dem Krieg nicht. Die Leis’ erzählten ihm dann ihre Geschichte. Der Großvater von Herrn Leis war etwa 100 Jahre zuvor als Kaufmann hierher gekommen, hatte sich relativ schnell ein Vermögen erworben und war reich und sehr angesehen gestorben. Auch weiterhin war das Geschäft gutgegangen. Als der Enkel im heiratsfähigen Alter war, fuhr er nach Deutschland, um sich direkt von dort eine Frau zu holen. Frau Leis war eine Hamburgerin. Sie sprach immer noch den hanseatischen Dialekt. Auch bei ihrer Tochter war er herauszuhören. Viel zu schnell verging die Zeit und Karl musste sich beeilen, in sein Zimmer zu kommen, wo er von Robert Falch, seinem Kameraden erwartet wurde.

„Wo bist Du nur geblieben? Ich dachte schon, man hätte Dich eingesperrt?“ sprach er aufgeregt auf Karl ein.

„Ach Robert, ich bin einem so schönen Mädchen begegnet, dass ich am liebsten hier bleiben würde.“

„Du bist verrückt! Was wird aus unseren Fluchtplänen? Denkst Du gar nicht an Deine Familie und dass wir wieder in unsere Heimat wollen?“

Karl beschwichtigte ihn, aber er war so aufgeregt, dass er die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Wenn er kurz einnickte, träumte er wirre Dinge, die er selbst nicht verstand. Aber auch seine Träume handelten meist von Alwine Leis. Ihm fiel ein, dass sie sich gar nicht verabredet hatten, aber er kannte ja ihre Wohnung, er würde einfach mal wieder hingehen. Doch schon nach zwei Tagen traf er Alwine wieder in dem Geschäft, in dem sie sich gerade kennen gelernt hatten.

„Mutter bäckt zum Sonntag ihre berühmte Hanseaten-Torte und möchte sie gern bei uns sehen. Kommen sie?“

„Nichts lieber als das, Fräulein Leis. Darf ich auch einen Kameraden mitbringen?“

„Natürlich! Wir freuen uns über jede Abwechslung, aber besonders freuen wir uns, Landsleute bei uns zu haben.“

Als Karl nach Haus kam, überraschte er Robert, der schon dachte, er würde beiseite geschoben, mit dieser Einladung. Die Beiden kauften sich neue Anzüge und machten sich am Sonntag fein für ihren Besuch. Jeder hatte sogar einen Blumenstrauß für die Damen und so standen sie vor dem Haus und dachten, sie seien in Deutschland, zu Hause. Auch Robert war von den Leis’ entzückt und Karl musste später viele Ausreden gebrauchen, um mit Alwine einmal allein sein zu können.

Alwine arbeitete in einer Strumpffabrik und hatte auch nur am Sonntag frei. Diese Sonntage verbrachte sie nun mit Karl. Ab und zu war aber auch Robert Falch dabei. An schönen Sonntagen fuhren sie auf dem nahegelegenen See mit einem der Ruderboote, die man dort mieten konnte und zum Kaffee oder Abendbrot war man Gast bei Mutter Leis. Wenn Karl später an alles zurück dachte, erschien ihm diese Idylle das Schönste, was ihm seine Jugend gegeben hatte. Denn die Jugend war vorbei, als er aus dem Krieg zurückkam, alle Soldaten, die das Inferno des Krieges überlebten, waren um Jahrzehnte gealtert. Die Zeit in Rostow verging auf diese Art wie im Flug und Karl dachte kaum noch an seine Fluchtpläne, selbst Robert Falch vergaß sie zeitweise.

Aber die Revolution, die in St. Petersburg ihren Anfang genommen hatte, verbreitete sich über ganz Russland und drang auch in abgelegene Gebiete. Sie machte Landsleute zu Feinden. Selbst Freundeskreise spalteten sich in zwei Lager. Vielen waren unzufrieden gewesen mit dem Zaren und seiner Regierungsweise, mit der Korruption in Ämtern und mit dem oft verschwenderischen Leben des Adels. Die Deutschen, die seit Generationen in Russland gelebt hatten, waren immer als autonome Minderheit geachtet worden. Jetzt wurden sie zum Teil als Feinde betrachtet. Der Familie Leis hatte man schon zu Beginn des Krieges ihren Besitz enteignet. Sie durften nur eine Wohnung im ehemals eigenen Haus bewohnen und einen Teil der Möbel behalten. Aber sie waren trotz allem zufrieden gewesen. Die Frauen waren übriggeblieben, als eine Grippewelle viele Opfer forderte, unter denen Herr Leis und seine beiden Söhne waren. Gertrud und Alwine Leis wussten, dass sie sich nicht gegen den Strom sperren durften, sie hatten sich dafür entschieden, in Russland zu bleiben und die russische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Bisher waren sie Reichsdeutsche gewesen. Karl sprach mit Alwine über ihre Pläne und drang in sie, nach Deutschland zu gehen, mit ihm und Robert. Sie sah ihn traurig an. „Du weißt nicht, was es heißt, ein Land zu verlassen, in dem man geboren und großgeworden ist, in dem die Gräber von den liebsten Menschen liegen und die schönsten Erinnerungen. Mutter würde niemals von hier weggehen und ich werde sie nie allein lassen.“

Alles hing in der Schwebe, keiner wusste so recht, wie er sich verhalten sollte. Zwar nicht offiziell, aber unter der Hand, erfuhr man schreckliche Dinge über die Revolutionsereignisse. Im Gegensatz zur roten Revolutionsarmee hatten sich die Zarentreuen in der weißen Armee zusammengeschlossen und alle kämpften verbissen gegeneinander. Die Revolutionäre hielten alle zurück, die noch an die Front wollten, um gegen deutsche Truppen zu kämpfen — und so entschloss man sich dort zu Friedensverhandlungen. Die beiden kriegsgefangenen Deutschen wussten, dass sie sich bald für eine Flucht entscheiden mussten, wenn sie noch gelingen sollte. Sie waren fast täglich Gäste bei Familie Leis und versuchten, die beiden Frauen zum Mitkommen nach Deutschland zu bewegen. An einem Abend im Spätherbst kam Karl zum Haus der Leis’ und traf nur die Mutter an.

„Alwine ist zu unseren Verwandten nach Schachtinski gefahren“, sagte sie verlegen. „Sie muss dort helfen. Die Cousine ist krank geworden und niemand ist da, um die Kinder zu versorgen. Und wahrscheinlich wird sie gleich dort bleiben, um sich mit Peter Kröger, einem entfernten Vetter, zu verloben. Sie lässt Dich herzlich grüßen und bittet dich, Russland bald zu verlassen. Du sollst zu Deiner Familie zurückkehren, ehe es zu spät ist. Das ist ihr größter Wunsch.“

Karl dachte an die zweifache Auslegung dieser Bitte, es fiel ihm schlagartig ein, dass er sich so hier eingewöhnt hatte, dass die Gedanken an seine Familie wie an etwas ganz Fernes, kaum Erreichbares gingen. Manchmal vergaß er ganz und gar, dass in Deutschland seine Frau auf ihn wartete. Die andere Auslegung war, dass der Bürgerkrieg, der über Russland tobte, bald die Stadt erreichen würde, und es kein Entkommen geben würde für einen deutschen Kriegsgefangenen. Dass Alwine einen anderen Mann zu heiraten gedachte, tat unendlich weh, aber was hatte er eigentlich erwartet? Er war verheiratet, aber er hatte hier ein Glück erlebt und die Erfüllung in einer Liebe gefunden, wie er sie nie vorher erlebt hatte und wie er sie nie wieder erleben würde.

„Geh nach Haus, Karl!“, sagte Mutter Leis bittend. „Mach es uns und mach es Dir nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist in diesem verlorenen Land! Ja, es ist verloren, unser Russland, in einigen Jahren wird es das Land, das wir so lieben, nicht mehr geben. Bete für uns, wenn Du zu Hause bist, und sprich für uns in Deiner Heimat, damit man uns nicht ganz vergisst.“

Sie machte keine Anstalten, Karl ins Haus zu lassen und verabschiedete sich von ihm mit einer verzweifelten Geste von Abwehr und Liebe. Wie ein Verlorener ging Karl zum Don hinab und lief an seinem Ufer verzweifelt hin und her, bis er sich soweit gefasst hatte, um Robert gegenüber zu stehen.

„Robert, wir werden uns morgen schon auf den Weg in Richtung Heimat machen. Hast Du alles zusammen, war wir brauchen?“

Der Freund sah Karl verwundert an: „Was ist in Dich gefahren, warum auf einmal diese Eile?“

Es brach aus Karl heraus wie eine Explosion: „Robert, sie will einen anderen Mann heiraten, kannst Du Dir das denken — einen Anderen?“

Er warf sich verzweifelt auf sein Bett.

„Was hast Du Dir sonst gedacht, Karl, wenn Du vernünftig denkst, musst Du einsehen, dass es so das Beste ist für euch beide. Lass uns also die Stadt, das Land verlassen, so schnell es geht!“

Sie packten ihre Sachen und gingen am frühen Morgen, als es noch dunkel war, zum Bahnhof. Es war ziemlich einfach, Fahrkarten zu lösen und sie fuhren aus der Stadt, als es eben anfing, zu dämmern. Auf gut Glück fuhren sie erst einmal nur einige hundert Kilometer weit in eine kleine Stadt, in der es noch friedlich zuzugehen schien und suchten sich einen Arbeitsplatz. In einer großen Wäscherei fanden sie Arbeit, der Besitzer war deutschstämmig und die Arbeit war angenehm, sie blieben gern hier. Als Herr Kayser, der Chef, dahinter kam, dass die beiden Freunde, die sich natürlich als Russen ausgegeben hatten, deutsche Kriegsgefangene waren, bat er sie, so schnell wie möglich weiterzureisen. Er verhalf ihnen zu falschen Pässen und besorgte ihnen Militär-Winterkleidung und so ging die Reise in Richtung Westen schon bald weiter. An einem günstigen Tag ging ein Zug von Nowo ab. Es war ein Zufall, denn nicht jeden Tag fuhren Züge, aber dieser brachte sie nach Noworossisk am Schwarzen Meer. Nun galt es, ein Schiff zu finden, das sie über das Schwarze Meer brachte. Es war Weihnachten, als die beiden Freunde auf einem Militärschiff die Wellen kreuzten. Furchtbare Stürme begleiteten sie während der ganzen Fahrt und sie hatten schon mit ihrem Leben abgeschlossen, als sie irgendwann in Odessa ankamen und sich schnell vom Schiff stahlen. Da aber überall ein furchtbares Chaos herrschte, konnten sie sich unbemerkt davonmachen und in der Menge untertauchen. Später träumte Karl noch oft von der Flucht, vor allem aber von dieser Schiffsreise über das Schwarze Meer. Gerade Weihnachten, wenn die Menschen nur an Schönes dachten, wenn sie versuchten, gut zu sein und auch im anderen Menschen das Gute zu sehen, dann dachte Karl an die Stunden, in denen er glaubte, nie die Heimat wiederzusehen. Er sah sich auf einer Bank kauern und fühlte, wie sein ganzes Innere sich in einem Chaos um und um drehte. Dankbar gedachte er auch seines Freundes Robert, der ihm beistand in seinen Todesängsten. Er war nicht so empfindlich gewesen gegenüber den Erschütterungen des Schiffes.

Karl hatte mit der Überwindung der Schiffsreise zugleich auch seinen Kummer über die verlorene Liebe überwunden. Als er in Odessa an Land ging, dachte er an seine Liebe zu Alwine Leis nur noch in einer fernen Erinnerung. Ihm war, als liege ein ganzer Lebensabschnitt zwischen jetzt und der Zeit mit Alwine, dabei war es erst einige Monate her, dass er Abschied genommen hatte von allem, was ihm soviel bedeutet hatte in diesem fernen Land. Dies Land war ihm über soviel Zeit hinweg Heimat gewesen, er war gern dort und hatte fast seine wirkliche Heimat vergessen. Diese Gedanken erschienen Karl in Odessa absurd, wenn er mit Robert sprach über die Weiterreise, lächelte er im Stillen über sich selbst, über den Gedanken, hier bleiben zu wollen. Obwohl es in Odessa ganze Straßen gab, die ihn deutsch anmuteten, drängte es ihn, aus der Stadt, aus dem Land zu kommen. Wieder gelang es den beiden Freunden, auf relativ einfache Weise, einen Zug in Richtung Westen zu erreichen und sie kamen heil in Tarnopol an, obwohl auch diese Zugfahrt nicht ohne Gefahren verlief. Der Zug wurde beschossen, geplündert und aufgehalten von den roten Revolutionären. Als Karl und Robert in Tarnopol ausstiegen, wussten sie, dass sie so schnell wie möglich weiter kommen mussten, sollten sie nicht in den Sog der Revolution geraten. In einer mondlosen Nacht stahlen sie sich in die Schützenlinien zur deutschen Front und ein Glücksgefühl sondergleichen überkam sie, als ein deutscher Posten sie anrief. Dem Glücksgefühl wurde dann allerdings ein Dämpfer aufgesetzt, als man sie einsperrte und tagelang verhörte, weil man Spione in ihnen vermutete. Nachdem man Nachforschungen über die beiden Freunde, die ja verschiedenen Regimentern angehört hatten, angestellt hatte und die Wahrheit ihrer Angaben bestätigt sah, ließ man sie frei. Robert Falch kam in ein österreichisches Regiment, Karl Wenden wurde in einen Zug nach Warschau gesteckt. Dort lag ein bayerisches Regiment in der Zitadelle, dem wurde Karl zugeteilt.

Als er durch die Stadt fuhr, gedachte er seines Aufenthaltes als Kriegsgefangener in dieser Stadt. Es war im Frühjahr 1915 gewesen, die Russen sahen sich als kommende Sieger dieses Krieges und ließen ihre Gefangenen durch die Straßen der Stadt Spießruten laufen. Blanker Hass war ihnen entgegen geschlagen, und doch hatte versteckt hier und da sich eine tröstende Hand ausgestreckt und den Hungernden, Gequälten ein Stück Brot gereicht, ein Glas Wasser. Beim Wiedereinsteigen in den Zug, in die verdreckten Viehwaggons, war Karl die ganze Sinnlosigkeit eines jeden Krieges bewusst geworden wie nie vorher.

Auch jetzt, 1918, sah er das Bild der Sinnlosigkeit in sich aufsteigen. Nach fast vier Jahren Krieg waren die Menschen seiner so überdrüssig, dass sie bereit waren, ihn zu beenden, ohne Sieger zu sein. Aber die Regierungen dachten nicht daran, das Morden zu beenden. Amerika war in den Krieg eingetreten und lieferte Material an die Union, die kein anderes Ziel mehr im Auge hatte, als Deutschland zu vernichten. Sie wollten dieses Land, das im Herzen Europa lag — klein und überbevölkert, aber mit Menschen, die fleißig waren und große Ideale hatten — zerstören, so dass es nie mehr aus seiner Vernichtung aufstehen sollte. Gegen die Übermacht seiner Feinde hatte Deutschland nicht mehr die geringste Chance, einen einigermaßen gerechten Frieden zu bekommen, und so ging auch der Kampf für die Deutschen weiter.

Karl Wenden durfte endlich, nachdem er drei Wochen in der Zitadelle von Warschau verbracht hatte, nach Hause fahren — durfte nach fast vier Jahren seine Familie wiedersehen. Er saß im Zug nach Haus und überdachte diese vier letzten Jahre, die hinter ihm lagen. Als junger Mann war er in den Krieg gegangen, gereift kehrte er jetzt nach Haus zurück. Nichts war geblieben von den Hoffnungen und Erwartungen. Deutschland würde gedemütigt werden und seine Menschen würden Lasten aufgebürdet bekommen, die kaum tragbar waren — das wusste Karl Wenden jetzt, nachdem er Zeitungen gelesen hatte und mit Kameraden gesprochen hatte, die an der Westfront gewesen waren. Sie hatten dort gesehen, welch Material von Amerika den Unionsstaaten geliefert wurde — ja, dass alles, was in Deutschland längst Mangelware geworden war, dort genügend vorhanden war. Die Russen hatten selbst große Not gelitten, sie waren so kriegsmüde, dass sie dem Frieden von Brest-Litowsk zugestimmt hatten und nichts als das Ende der Feindseligkeiten wünschten. Solange er in Russland war, hatte Karl noch an einen gerechten Frieden für Deutschland geglaubt — aber jetzt wusste er, dass dieser Glaube aussichtslos war. Trotz aller Freude, nach Hause zu kommen, überwogen diese dunklen Gedanken in Karls Herzen. Als er die Grenze nach Deutschland überfuhr, nahm er Abschied von einer Zeit, von einem Land, das ihm fast zu einer zweiten Heimat geworden war. Er wusste, er würde nie wieder hierher zurückkommen.

Und so war es — er konnte als russischer Kriegsgefangener hier nicht mehr verwendet werden und er fuhr bis zum Kriegsende Transporte an die Westfront.

Aber erst einmal war er zu Hause in seinem kleinen Dorf in Hessen. Als der Zug die Thüringer Berge durchfuhr, hatte Karl Vergleiche angestellt mit den Bergen des Ural, den er 1915 durchfahren hatte — wie anders war das gewesen. Die hohen Berge des Ural standen drohend vor ihm: waren sie doch wie ein Tor zu einer anderen Welt — ein Tor, das verschloss, was dahinter lag und das sich vielleicht nie mehr öffnen würde, um ihn zurückzulassen in die Welt, aus der er kam. Und nun war er hier, hatte das Tor geöffnet und den Weg zurückgefunden, es war wie ein Wunder. Er atmete den Duft der Heimat und schämte sich nicht der Tränen, die ihm in die Augen traten, als er den Namen seines Heimatdorfes auf dem Bahnhofsgebäude las. Als der Zug hielt, schlug ihm das Herz bis zum Hals: was würde ihn erwarten? Aber als er mit seinem wenigen Gepäck den Zug verließ, sah er alle, die er besonders liebte, am Eingang stehen, und in ihm war eine unsägliche Freude. Er kam zurück in seine Heimat mit allem dort, was ihm heilig gewesen war und er vergaß alles, was in den Jahren zwischen Abschied und Wiederkehr gewesen war in der fernen, fremden Welt. Nie hat er jemandem davon erzählt, was er in Rostow erlebt hatte, und er dachte an diese Episode nur noch wie an etwas, das in einem früheren Leben gewesen war, fern und unwiederholbar.

2. Buch

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